„Spiel schön!“
Ein bereits etwas älterer Artikel, den ich vor einigen Jahren für das Pippi Magazin geschrieben habe, der aktuell aber sehr gut zum Thema in unserem Telegram-Kanal „Gutes Spiel – schlechtes Spiel“ passt.
https://pippi-magazin.com/spiel-schoen/
Woran denken wir, wenn wir ans Spielen denken? Welche Bilder tauchen in uns auf? Gerade im Umgang mit kleinen Menschen braucht es oftmals das gedankliche „Raus aus der Komfortzone“. Fort von der Bequemlichkeit alter, aber auch neu erschaffener Denkmuster und Glaubenssätze, die wir mit uns herumtragen. Weg von richtig und falsch, gut und schlecht vermeintlicher moralischer Instanzen, die wir oft nicht einmal benennen können um um Platz zu schaffen für wirkliches, freies und selbstbestimmtes Wachsen und sich Entfalten, für das spielerische, selbstverständliche Entdecken und Lernen.
Wir sprechen über freies und selbstbestimmtes Spielen, Lernen und Wachsen und schaffen dennoch oft gedankliche, aber auch verbale Grenzen, was sein darf und was nicht. Wir wünschen uns Freiraum für die kleinen Menschen um uns, und schaffen es dennoch so oft nicht, diesem einen angemessenen Rahmen zu bieten und die optimalen Bedingungen dafür zu bereiten. Aus welchem Grund auch immer, hat sich in den Köpfen von vielen von uns die Idee festgesetzt, dass freies und selbstbestimmtes Spielen und Lernen immer sanft und ruhig ablaufen müssen und immer lieb lächelnde und friedlich miteinander umgehende Menschenkinder beinhalten müsse. Anders ausgedrückt, es hat sich in vielen von uns der Gedanken festgesetzt, dass es in diesem freien und selbstbestimmte Tun gewisse Spiele und Interessen einfach nicht geben würde.
Meine früheste Erinnerung…
… ans Spielen ist jene, als mich meine Geschwister unterm Wäschekorb versteckt haben. Oder eingesperrt – je nachdem, wie man es betrachten möchte. Von Seiten meiner Geschwister, oder von Seiten meiner Mutter.
Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein, denn ich passte wirklich gut unter diesen Korb. Aber ich fühlte mich nicht eingesperrt. In meiner Erinnerung ist da nur das angenehme, ruhige Gefühl, das mich plötzlich ausfüllte. Ich war fasziniert von dem Dämmerlicht und den gedämpften Tönen. Und ich erinnere mich noch gut daran, wie unser Spiel ein jähes Ende fand, weil der Wäschekorb hoch gerissen wurde und meine Mutter, laut mit meinen Geschwistern schimpfte. Sie war wirklich wütend und drückte mich an sich, in dem Glauben, dass mir etwas Furchtbares widerfahren sei.
Ich kann mich noch an etliche andere solcher Erlebnisse meiner Kindheit erinnern. Momente in denen unser Spiel abrupt von Erwachsenen unterbrochen wurde und es Ermahnungen gab.
Wenn ich heute, an die Spiele unsere Kindheit denke, dann schwanke ich zwischen Verwunderung und Faszination, darüber, wie wild, ungestüm und extrem unsere Spiele zum Teil waren. Es wird mir bewusst, wie schön es manchmal war, wenn die Erwachsenen mitspielten und wie wichtig es aber viel öfter war, dass sie weit weg waren und von unseren Spielen nichts mitbekamen.
Ich kann mich an Augenblicke erinnern, wo es uns nicht extrem genug sein konnte und wo wir immer wieder noch eine Steigerung zu finden versuchten. Wo wir vor Lachen kaum mehr Luft bekamen oder uns die wildesten Geschichten ausdachten. Oder wo die Grenze zwischen Spaß und Streit nur hauchdünn war. Ich kann mich an Augenblicke erinnern, in denen wir uns nichts „schenkten“, sondern mitunter gar körperlich für unsere Überzeugungen und Ansichten eintraten und den einen oder anderen blauen Flecken davontrugen. Aber auch an jene Augenblicke und Momente friedlicher Eintracht, wo das Gefühl der Verbundenheit unendlich groß und kaum greifbar war.
In Erinnerung geblieben ist mir aber auch jener Moment, in dem ich mich zum allerersten Mal bemüßigt fühlte, das wilde und laute, aber definitiv ungefährliche Spiel der Jüngeren zu unterbrechen, die Rolle der „Erwachsenen“ zu übernehmen und die Kleinen mit Ermahnungen unter Kontrolle zu halten. Einfach so, weil man das als Erwachsener eben so macht und ohne mir viele Gedanken darüber zu machen. Unbemerkt von mir selbst, hatte ich im Laufe der Jahre die Glaubenssätze und Denkmuster der Erwachsenen meiner Umgebung übernommen (verständlicherweise) und mich an diesen orientiert. Unbemerkt von mir selbst, hatte ich mein eigenes Empfinden, meine Freude am Spielen zurechtgestutzt, für diese Gesellschaft passend gemacht und gelernt, wie „Spielen“ zu sein hatte.
Erst viele Jahre später…
… begann ich darüber nachzudenken, als meine Prägungen und Denkmuster mit meinen Vorstellungen über einen achtsamen und wertschätzenden Umgang mit kleinen Menschen kollidierte und mich mehr oder weniger dazu zwangen, meine eigene Komfortzone zu verlassen und mich auf die Suche nach Antworten zu begeben.
Auslöser war im Grunde unser Sohn, mit seinen Grenzgängen, seiner Wildheit, seiner Faszination für alles Schnelle und „Gefährliche“, für Ritter und Krieger generell und ihre Waffen, wie auch für alle möglichen Kampfsportarten. Und meiner damit einhergehenden inneren Abwehrhaltung.
Denn nach unserer ruhigen Erstgeborenen, waren das Eigenarten und Interessen, mit denen ich im ersten Moment nicht umzugehen wusste. Sie bereiteten mir Kopfzerbrechen und forderten mich heraus. Seine Interessen brachten meine Vorstellungen von immer sanft und ruhig, „wir haben uns alle so lieb und sind freundlich zueinander“ spielenden Kindern, als direkte Folge des achtsamen, liebevollen und wertschätzenden Umgangs mit den kleinen Menschen gehörig ins Wanken. Und mich letztendlich dazu, mich auf die Suche zu begeben.
Denn da war dieser kleine Junge, den ich so sehr liebte, der nie ein böses Wort oder Aggression von unserer Seite erfahren hatte, dem wir ausnahmslos einen achtsamen und wertschätzenden Umgang miteinander vorgelebt hatten und dieser kleine Junge beobachtete fasziniert und mit leuchtenden Augen die älteren Jungs, wie sie sich Schwerter schnitzten und Schilder bastelten, wie sie ihre selbst gebastelten Revolver in den Gürtel steckten, und in Banden aufgeteilt durch Wald und Feld zogen um sich zu „bekriegen“. Mein kleines Baby stand da plötzlich strahlend vor mir und zeigte mir seine im Wald gesammelten Schätze „Schwerter, Waffen, …“. und erläuterte mir, dass er ab sofort ein Ritter sei und alle töten würde, die was Böses tun wollten. Dabei hatten wir uns ganz bewusst entschieden, diese Themen zu meiden. Die waren nichts für uns, die passten einfach nicht ins Bild unserer Vorstellungen eines liebevollen und achtsamen Umgangs miteinander.
Das waren schlimme Dinge. Das waren böse Themen, voller Brutalität und Gewalt und die Erde auf der wir lebten, sollte doch schön sein und lieb und friedlich. Ich war entsetzt, enttäuscht und verwirrt. Wo ich doch so felsenfest davon überzeugt gewesen bin, dass weder unser Sohn noch unsere Töchter derartige Interessen jemals entwickeln könnten, bei all der Liebe und Achtsamkeit und Wertschätzung, die sie erfuhren.
Es dauerte Monate, bis ich annähernd verstand, worum es hier eigentlich ging und das die Interessen und das damit einhergehende Spielen unseres Sohnes nichts mit Gewalt oder Aggression zu tun hatte. Das war kein leichter Weg. Sondern einer, der mit vielen Gewissensbissen gepflastert war. Einer, an dem ich in vielen, vielen Stunden unser Verhalten als Eltern analysierte, nach einer vermeintlichen Schuld für seine Interessen suchte, nach Spannungsmomente und versteckten Aggressionen als mögliche Ursache. Ich legte all unsere Worte auf die Waagschale, versuchte vernünftige Gespräche mit unserem Sohn zu führen, versuchte zu intervenieren und drehte und wendete mein von Glaubenssätzen und Idealen gepflastertes Bild, um es irgendwie zurecht zu biegen. Bis ich letztendlich erkannte, dass ich etwas Grundlegendes übersehen hatte.
Ist doch nur ein Spiel, Mama!
Spielen ist nicht immer sanft und lieb und ruhig und friedlich. Manchmal ist es genau das. Und manchmal ist es wild und laut und ungestüm und der absolute Grenzgang. Manchmal ist es das Messen von Kräften und Erleben von Gefühlshöhepunkten. Das Ausloten von Grenzen, das Spüren und Wahrnehmen, das Erkennen, Erfahren und Begreifen von dem was ist.
Wir spielen, um zu verstehen. Um zu verarbeiten. Um zu Lernen.
Im Spiel entscheiden wir uns ganz bewusst, in eine andere Rolle zu schlüpfen, andere Realitäten zu erschaffen. Spielen braucht Raum und es braucht die Gegensätze. Die Spannung, die Dualität, die Grenzgänge. Wenn wir spielen, sind wir „woanders“, sind zeitlos. In einem Zustand, wo weder das Gestern noch das Morgen von Bedeutung ist, sondern ausschließlich das JETZT zählt.
Spielen braucht die Bewegung zwischen Spannungsaufbau, Höhepunkt, Spannungsabbau, Entspannung und Ruhe. Diese beständige Wellenbewegung. Und es braucht das SEIN dürfen.
Gutes Spiel – schlechtes Spiel?
Wo verläuft die Grenze? Wenn das Spiel mit Pfeil und Bogen, mit Schwertern und selbst geschnitzten Holzwaffen als schlecht gilt, wenn es als schlecht einzustufen ist, dass kleine Menschen sich in Gruppen aufteilen um gegeneinander zu kämpfen, weil die einen Räuber und die anderen Polizisten sind oder Ritter zweier Burgen, müssten wir dann nicht auch schon beim Fangen- oder Nachlaufenspielen die Grenze ziehen? Oder beim Abschießen mit dem Ball? Müssten wir dann nicht schon jegliches Spiel unterbinden, wo die Großen z.B. den wilden Tiger geben um die Kleinen zu fangen? Wo es Jäger und Gejagde gibt? Wo wir versuchen, schneller oder stärker zu sein als der andere?
Und wäre dann, an diesem Punkt nicht bereits jegliches Spiel bedenklich, weil wir ständig irgendwo einen Punkt finden können, der ein Gegeneinander darstellen kann? Harmlose Spiele wie Sesseltanz, Feuer-Wasser-Sturm, Donner-Wetter-Blitz oder auch „Räuber und Gendarm“ müssten dann eigentlich in die Kategorie „schlecht“ eingeordnet werden. Denn worin besteht der Unterschied, zwischen dem „Abschuss“ mit einem Ball oder dem vermeintlichen, imaginären „Abschuss“ aus einem zum Revolver umfunktionierten Stück Holz bzw. dem Treffer durch das Holzschwert?
Bevor ich Mama unseres Sohnes wurde, hätte ich darauf eine ganz klare Antwort gehabt. Weil ein Ball harmlos ist und ein Revolver oder ein Schwert oder jegliche andere Waffe etwas Schlechtes.
Nur, dass das mein Bild war. Nicht das unseres Sohnes. Die Waffe ist ja nicht echt, Mama. Das ist ja nur ein Spiel.
Aus Spiel kann aber ganz schnell ernst werden?
Ja und nein. Die Grenze eines jeden Spiels, liegt in der individuellen Grenze des Einzelnen. In der Entscheidungsfreiheit für oder gegen das Spiel. Und an eben diesem Punkt braucht es uns, in unserer Rolle als Vorbilder, aber auch als zurückhaltende Beobachter, die wenn nötig begleiten und Orientierung bieten.
Wir erreichen ein harmonisches, achtsames und wertschätzendes Miteinander nicht durch Verbote oder Ausgrenzung dessen, was uns unangenehm ist oder womit wir aufgrund unserer Prägungen und Glaubenssätze nicht umgehen wollen (oder auch können). Wir schaffen Frieden nicht dadurch, dass wir vorhandene Spannungen und Gewalt in unserer Umgebung vor unseren Kindern zu verstecken oder schlimmer noch zu negieren versuchen. So tun, als ob es all das nicht geben würde.
Wenn wir kleinen Menschen freies und selbstbestimmtes Spielen als Teil eines natürlichen Aufwachsens, Lernens und sich Entfaltens ermöglichen wollen, dann müssen wir zuallererst den Schritt hinaus aus alten Denkmustern wagen, unsere Komfortzone verlassen und den kleinen Menschen ihren Raum, ihre Gedanken und Interessen lassen.
Wir erreichen ein harmonisches, achtsames und wertschätzendes Miteinander indem wir es leben. Indem wir unseren Platz als erwachsene Vorbilder einnehmen, kleinen Menschen Orientierung bieten, sie begleiten und ihnen durch das Stärken der Bindung zueinander, bei der Regulation ihrer Bedürfnisse und Gefühle „helfen“. Ein Teil dieser Regulation, vor allem in Bezug auf Emotionen ist das Spiel. Das hinein fühlen und bewusste Erleben von der oben erwähnten Wellenbewegung zwischen Spannungsaufbau und Entspannung.
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