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Kleine Schritte

Kleine Schritte

Den kleinen Körper angespannt, den Blick geradeaus gerichtet, steht sie da. Eine Hand am Rutschauto. Konzentriert. Ganz bei sich. Beinahe kann ich sie sehen, ihre Gedanken. Fast greifbar ist ihr „irgendwie muss das doch gehen“. Für einen Augenblick lässt sie los, im nächsten hebt sie das Bein. Pure Konzentration. Die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen. 


Ihre Hände wieder am kleinen Lenkrad, hebt sie abermals ihr Bein, das diesmal auf der Sitzfläche landet. Noch ist sie nicht zufrieden. Vorwärts kommen will sie. Sie wippt auf und ab, probiert verschiedene, schon bekannte Bewegungsmuster aus, aber noch ist keines dabei, welches sie weiter bringt. Das Gelingen kurze Zeit später ist reiner Zufall. Im wilden Auf-und-ab-Wippen hebt sie ihr Bein wieder ein kleines Stück an und setzt es im Weiter-Wippen ein Stück vor sich auf den Boden ab. Das Rutschauto bewegt sich dadurch. Und plötzlich hat sie den Dreh raus. Sie lacht, schiebt, brabbelt vor sich hin und scheint unendlich stolz zu sein.

​Das Kind anregen zu müssen, das glauben wir nur, weil wir zu wenig Ahnung davon haben, was jeder Mensch an Entfaltungsmöglichkeiten mit auf die Welt bringt.

Heinrich Jacoby

​Mut und ​Selbstvertrauen

​So klein, so viel Mut, so viel Selbstvertrauen, denke ich. So unermüdlich, so zuversichtlich, so mitten drinnen im einfach tun.

Ein paar Tage später klettert unsere Jüngste wieder einmal die Stiegen hoch. Ein paar Steinstufen vor unserer Haustüre, die auf sie eine magische Anziehung ausüben. Klettern. Vom freien Gehen ist sie noch weit entfernt und dennoch will sie klettern. Überall. Wo es nur geht. 
Diesmal mit einem kleinen Becher in der Hand, was schon eine eigene Herausforderung zu sein scheint. Auf der ersten Stufe fällt er ihr aus der Hand und rollt nach unten.

Jetzt hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Ich bin neugierig, was jetzt geschehen wird. Denn bisher ist sie immer ausschließlich nach oben gekrabbelt. Hinunter hat sie bisher nicht interessiert.


Innerlich bin ich zerrissen. Es sind Steinstufen. Wenn sie fällt, hat sie höchstwahrscheinlich eine Beule. Ich schwanke zwischen Angst und Vertrauen. Zwischen „Gefahr bannen“ und „sie tun lassen“ und entscheide mich aus dem Bauch heraus für Letzteres, unterbreche aber meine Tätigkeit und beobachte sie. Jederzeit bereit hinzugreifen, wenn es nötig sein sollte, um den Sturz abzufangen oder zu lindern. 


Aber noch fällt sie nicht. Noch versucht sie konzentriert, den Becher wieder zu erreichen. Zuerst mit gestreckter Hand, was nicht gelingt, dann geht sie in die Knie. Mit dem Gleichgewicht wird es jetzt schon schwieriger und es dauert, bis sie es wieder gefunden hat. Den Becher erreicht sie dennoch immer noch nicht. 


Wenn ich eingreife, nehme ich ihr die Chance, es zu schaffen. Dreimal denke ich, dass sie das Gleichgewicht verlieren wird. Mein Herz schlägt schneller und ich bin am Sprung. Aber sie hält sich. Streckt sich, probiert, versucht weiter. Da ist kein winziger Moment des Zögerns. Kein „nach Hilfe suchen“. Sie macht einfach. Ein Balanceakt, nicht nur körperlich. Ein einziges Mal wendet sie sich kurz ab und blickt die Stufen nach oben, so als ob sie überlegt, aufzugeben und es einfach sein zu lassen. Aber der Becher ist zu spannend. Zu wichtig in dem Moment. Also probiert sie weiter. Zuerst im Stehen, dann im Vierfüßer. Zuletzt liegt sie auf der Stufe.

Meine Angst ist verflogen und dieser schon so bekannten Faszination gewichen, die mich jedes Mal packt, wenn ich derartige Lernprozesse beobachten darf. Unbemerkt. Ich bin gespannt, ob sie mit dem Kopf zuerst oder doch mit den Beinen voran nach unten klettern wird. Nie hat ihr das jemand gezeigt. Da gibt es für mich kein richtig und falsch und ich kenne von Babys beide Varianten. 


Sie nimmt den – für sie in dem Augenblick – sichereren Weg, und lässt die Beine voran nach unten gleiten und ihren Körper folgen. Einfach so, als hätte sie es schon immer so gemacht. Diese neue Errungenschaft, das „Geschafft-haben“ interessiert sie aber heute kein bisschen. Ich bin die, die sich leise freut. Auch darüber, nicht eingegriffen zu haben. Sie interessiert sich nur für den Becher. DIESES geschafft haben, interessiert sie. Sie freut sich als sie ihn wieder ergreifen kann und betrachtet und wendet ihn, so als ob sie sich vergewissern wolle, ob noch alles dran ist. Bevor sie abermals nach oben klettert. Diesmal ohne Zwischenfälle.

​Raum zum Entdecken bieten

Mitten drinnen in der Bewegungsentwicklung ist unsere Jüngste mit ihren 9 Monaten. Zielstrebig, den Blick immer nach vorne auf die älteren Geschwistern gerichtet. So, als ob sie deren Tun und Bewegen genau studieren wolle, um es Nachahmen zu können. Schnell, ständig am Probieren, keine Zeit zum Ausruhen. Sie will hinterher. Und das zeigt sie uns auch. Ihr Streben nach dem Vorwärtskommen ist enorm. Übergroß und in so vielen kleinen Augenblicken so deutlich zu beobachten. So wunderschön mitzuerleben. Und so herausfordernd für unsere Nerven. 


Wie immer bin ich fasziniert von diesen Augenblicken. Diesen kleinen Momenten, wo Entfaltung so offensichtlich und beobachtbar stattfindet. Wo sie greif- und sichtbar wird und wo die Versuchung oft so groß ist, einfach mal eben schnell zu „helfen“, vorzugreifen oder auch zu verhindern, weil es zu gefährlich aussieht. Zu gefährlich sein könnte. Weil wir uns von unseren Ängsten mitreißen lassen, Wahrscheinlichkeiten und mögliche Unfälle im Kopf abspulen und den Raum dadurch klein machen. Einschränken und misstrauen, dem kleinen Menschen und seinen Fähigkeiten gegenüber.

Was aber geschieht, wenn wir nicht eingreifen? 
Wenn wir unsere eigenen Ängste hinten anstellen? 
Wenn wir einfach nur in der Nähe und stiller Beobachter bleiben, der zur Not eingreifen kann?

​Tun lassen heißt im Endeffekt nicht alleine lassen oder sich selbst überlassen. Es heißt Raum geben, damit das eigene Sein entdeckt und die eigenen Grenzen wahrgenommen werden können. Es sind zeitlose Augenblicke, in denen Lernen und Entfalten stattfindet. Augenblicke, wo sich das Zusammenspiel von Entdecken, Erfahren und Begreifen mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen so schön beobachten lässt. Wenn wir den Mut haben, uns zurück zu halten, zu Vertrauen und Raum zu geben.

​Tun lassen heißt ​Raum geben, damit das eigene Sein entdeckt und die eigenen Grenzen wahrgenommen werden können.

Lini Lindmayer im Pippi-Magazin

Es sind diese wunderbaren Augenblicke, in denen der kleine Mensch, seine Größe, seine Entfaltungsmöglichkeiten, sein Potential begreift. Wo es ausschließlich ums Tun und Sein geht.

Es sind jene Augenblicke und mit ihnen verbundene, innere Emotionen, die wir durch kein Forcieren, Eingreifen, Belehren oder Beurteilen erreichen oder in den kleinen Menschen hervorrufen ​ können. Denn es sind Augenblicke, die diesem jungen Wesen ganz alleine gehören​. 
Nirgendwo sonst lässt sich Lernen in seiner Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit so deutlich erkennen, wie im Tun kleiner Menschen. Nie mehr wieder in unserem Leben ist Lernen und Begreifen so dermaßen intensiv und frei jeglicher Zweifel oder Ängste, nie wieder so zeitlos und fokussiert. 


Und nur wenig ist vergleichsweise so fragil in seinem Gleichgewicht und sensibel in seinem Prozess, wie das LERNEN und sich ENTFALTEN.

​​Freie Bewegungsentwicklung

​Besonders deutlich wird das unter anderem in der Bewegungsentwicklung. 
Bewegung ist …

  • Dynamik.
  • das Erkennen des Selbst auf ganz eigene Art und Weise.
  • das Entwickeln von Körpergefühl.
  • das sich Spüren und Wahrnehmen, alleine oder in der Interaktion.
  • das in Kontakt treten mit anderen.
  • das Erkennen der eigenen Grenzen und Begrenztheit.
  • ​das Erleben unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Greifen wir ein, forcierend oder verhindernd, nehmen wir dem kleinen Menschen die Chance, es selbst zu erfahren, die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen und die eigenen Grenzen zu erfahren. Nehmen wir Bewegungsabläufe vorweg, beeinflussen wir zudem einen äußerst sensiblen Prozess, der darauf abzielt, Muskeln zu stärken und den Körper optimal auf den aufrechten Gang vorzubereiten. Der kleine Mensch, in seiner Bewegung eingeschränkt und zu wenig vorbereitet, muss für diese Abläufe und Positionen Muskeln verwenden, die dafür eigentlich nicht vorgesehen sind und entwickelt dadurch untypische Bewegungsmuster, verspannt sich und erfährt gleichzeitig, dass da immer jemand ist, der fängt, hält und Grenzen setzt.  

​​Greifen wir ein, forcierend oder verhindernd, nehmen wir dem kleinen Menschen die Chance, es selbst zu erfahren, die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen und die eigenen Grenzen zu erfahren.

Lini Lindmayer im Pippi-Magazin

Es versteht sich von selbst, dass wir bei großen Gefahrenquellen eingreifen und ohne wenn, und aber einfach handeln.

Und ja, manchmal bleibt uns das Herz stehen, bei gewissen Aktionen. Manchmal wollen wir einfach nur eingreifen und helfen, weil wir ja wissen, wie es geht. Und nichts wünschen wir uns mehr, Stürze und dergleichen zu verhindern. Aber trotz aller Vorsicht werden wir kleinere Unfälle, Missgeschicke und dergleichen nicht verhindern können. Sie sind Teil des Lernprozesses. Sie gehören zum Verstehen und Begreifen dazu. Ganz im Gegenteil, werden wir die Wahrscheinlichkeit rapide erhöhen, wenn wir die natürliche Entwicklung von einem gesunden Körpergefühl durch fortwährendes Eingreifen, Forcieren und Verhindern blockieren. 


Denn, wenn wir kleinen Menschen den Raum geben sich selbst durch die freie Bewegungsentwicklung zu erfahren und ihre eigenen Grenzen zu finden, dann schaffen wir eine Möglichkeit – für sie – ein gesundes Körpergefühl und Gespür dafür zu entwickeln, was geht und was nicht. Sie werden selbstsicherer, mutiger und entwickeln ein Selbstvertrauen, weil sie es aus eigener Kraft geschafft haben. Und weil nicht wir es sind, die die Grenzen abstecken, sondern sie selbst ihren Bereich schaffen und wissen, wann sie wie weit gehen können und wo ihre Grenzen liegen. 


Wir dürfen Mut haben zu vertrauen, dass die Kleinen ihren Weg finden werden. Wir dürfen ihnen zutrauen, sich in ihrem Tempo zu entwickeln, ihr ganz eigenes Bewegungsmuster zu finden und dadurch ein gutes Gespür für ihren Körper zu entwickeln. Und wir dürfen uns zurück lehnen, zuschauen und eintauchen in die Faszination „Entwicklung“.

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